Wie es früher in unserem Dorf aussah, und was ich im engeren Kreis der Familie erlebte

aus alter Zeit von Heinrich Dahmer

geboren in Liederbach den 14. Nov. 1859 
gestorben in Darmstadt den 20. Mai 1953

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Wenn ich die Gehöfte Liederbachs betrachte, will es mir scheinen, als habe das Dorf gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen Aufschwung genommen. Zum Beispiel die zwei schönen Gebäude, das, der Familie Dippel gehörende und das alte Schulhaus, entstammen dieser Zeit. Der Zimmermann, der diese Fachwerkhäuser schuf, hat baukünstlerischen Geschmack entfaltet. Bis ins 19. Jahrhundert hinein entstanden größere Hofreiten und Umbauten. Es liegt der Gedanke nahe, dass der weltbewegende Ausbruch und Verlauf der französischen Revolution 1789, das Volk und die ängstlich gewordene Regierung aus der Lethargie aufweckte, und zu fortschrittlichen Zwecken des Volkswohls anspornte. Liederbach war damals noch verwaltungstechnisch Altenburg angegliedert. Dort residierte zu dieser Zeit der „Scholtes“ (Schultheis!). Erst 1821 bekam es seinen eigenen Bürgermeister.

Ein kleines, aber viel besuchtes und gewichtiges Häuschen will ich nicht vergessen zu erwähnen. Da steht es, bescheiden, geduckt und fensterlos, aber doch wie es sich gehört frei im Mittelpunkt des Dorfes am Bach. Der fremde Städter könnte fragen: was ist das? Aber oft wird der Vorübergehende es riechen, bevor er es sieht. Denn die gar lieblichen Düfte frisch gebackenen Brotes, und oft auch der von der Bäuerin mit Sorgfalt und Liebe bereitete Salzekuchen, steigen in die schnuppernde Nase und machen den Mund wässrig. Da braucht man nicht mehr zu fragen. Es ist das trauliche Backhaus, wohl eine der ältesten Baulichkeiten des Dorfes. Seine hohe Zeit hat es in den Tagen vor den Festen. Da wird der Backofen nicht kalt und das „Ohetze“ ist leicht. Wenn es erzählen könnte aus seinen Erlebnissen, – von Armut und Wohlstand, Hochzeits- und Begräbniskuchenbacken. Auch von Missernte und Hungerzeiten. Vielleicht wüsste es auch ein Liedchen zu singen von ,manchem Zank und Streit der backenden Frauen. Das gäbe eine Chronik für sich.

Wehe, wenn der Liederbach zum reißenden Strom wird und plötzlich die Grundmauern des Niederdorfes unter Wasser setzt! Da müssen die Frauen flüchten und die Männer herbeirufen, um das gefährdete Backwerk zu retten. Hier will ich ein tragikomisches Erlebnis, während der letzten Überschwemmung einflechten, das sich im Jahre 1948 zutrug. Eine Frau in Kindsnöten bedurfte dringend der Hebamme. Aber das Haus von Mutter Pabst stand im Wasser ja, die ganze Dorfstrasse war überschwemmt. Was tun! Kurz entschlossen holte der hilfsbereite Nachbar, Karl Mess, sein Pferd aus dem Stall, ritt durch das strömende Wasser, hob die Amme aus dem Fenster auf sein Pferd, und brachte sie so glücklich und trocken an Ort und Stelle.

Doch lassen wir unsere Gedanken aus der Gegenwart wieder zurück gleiten in die alte Zeit. Der Platz vor dem Backhaus war früher eine Art Freistatt, auf dem umherziehende Zinngießer, Kesselflicker, Zigeuner und Drehorgelspieler ihr Wesen trieben. Eine gewohnte Erscheinung waren auch die Mausefallenhändler aus der Slowackei.

Der Gutshof, ursprünglich Sitz der Adelsfamilie, wurde von dem Ökonom (so nannte man früher die Großgrundbesitzer), Kaspar Keudel, Awa im Jahre 1809 neu aufgebaut. Diese Familie stammte aus Windhausen und hatte den Hof durch drei Generationen im Besitz. In dieser Zeit kamen auch ein Schmied namens Kilian, ein Wagner Steuernagel, Schreiner Ruppel, Zimmermann Stieler in’s Dorf. Der sogenannte „Maurerjörg“ und der „Eckeschneider“ wohnten neben der alten Schule. Der Verdienst war dazumal äußerst gering und recht kümmerlich musste der Handwerksmann sich ernähren. Ganz besonders karg war der Verdienst eines Steinschlägers, der bei Wind und Wetter an den Straßenrändern seiner Arbeit nachging. Ein Pries’chen Schnupftabak und ab und zu ein Schlückchen aus der kleinen Schnapsflasche, die im „Leppe“ (der Tasche) steckte, musste die saure Arbeit versüßen. Auch der Bauersmann lebte bescheiden von dem, was der Boden ihm gab. Aber doch war der Mensch dazumal zufriedener und glücklicher – wie mir scheint – als heute.

Die Besitzer der Hofgüter, oder auch Pächter derselben in unserer Gegend, waren Anfang des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich Menoniten (eine christliche Sekte). Sie unterschieden sich äußerlich von den Bauern durch ihre Haartracht und Vollbart. Wie mir gesagt wurde, waren es sehr fromme Leute, und in ihrer einfachen gediegenen Lebensführung sollen sie vorbildlich gewesen sein. Der alten Lehrergilde möchte ich noch gedenken. Prächtige Jugenderzieher, die der Dorfjugend ein solides, praktisches Wissen vermittelten, von mir persönlich kann ich sagen, dass ich meinen Lehrern Espenschied und Uhl viel verdanke. Sie verstanden es meisterlich, mit Strenge aber auch mit einer großen Herzensgüte, uns Kinder zum Guten anzuleiten. Der Rohrstock war damals noch in Mode und sicher recht segensreich und nützlich. Da fällt mir ein kleines Erlebnis aus der Kindheit ein. Peter Stieler und Andreas Kasper waren meine guten Freunde, und wir drei heckten allerhand Unfug zusammen aus. So wollten wir auch mal das Rauchen probieren, und da uns nichts anderes zur Verfügung stand, so nahmen wir ein Stück spanisch Rohr, das uns als geeignet erschien. Bei diesem Genuss wurde uns dreien aber allmählich schrecklich übel, sodass wir noch ganz elend und krank in die Schule kamen. Nicht genug damit, wurden wir auch noch vom Lehrer über’s Knie gelegt. Da hieß es, bei einem Wink mit dem Stöckchen „Komm mal raus!“ Schuldbewusst nahmen wir unsere Strafe entgegen. Sie fiel aber nicht gar zu hart aus. Der Lehrer hatte uns beim Rauchen, von seinem Garten aus, beobachtet.

Peter und ich liebten die Musik. Er hatte eine kleine Mundharmonika, mit der er sich die Lippen blutig rieb, beim eifrigen Spiel, und ich hatte mir aus einem flachen Zigarrenkistchen eine Zupfgeige gemacht. Auch eine Flöte wurde gebastelt. Aber alle unsere, mit großer Hingabe hergestellten Instrumente befriedigten uns doch nicht ganz. Das höchste Ideal war, später einmal eine Geige zu besitzen wie sie unser Lehrer hatte.

Die damals üblichen Rufnamen in Alt-Liederbach waren teilweise recht originell. Eine gewisse Vielfalt wurde durch Verbindung zweier Namen erreicht. Immer wurde der Rufnamen des Paten geführt. Viel stärker als in der heutigen Zeit, war der Pate dem Kinde verbunden. Es gab ein etwas dunkles Sprichwort: „Die siebente Ader rührt den Paten“. Eine Art Seelenverwandtschaft.

Beliebte Doppelnamen waren zum Beispiel bei Mädchen: Anntraud, Anndort, Anngret, Annlies, Annkatrin, Marilin, Evelin, Evelies, u.s.w. bei Buben hieß es: Hannjost, Hannpeter, Hannjust, Hannjörg, Hannerch (Johann-Heinrich), Hannaram (Johann-Adam) u.s.w.

An alten Originalen fehlte es nicht im Dorf. In den 1860er Jahren hütete Josephs Michel die Schafe. Sein Spitzname war „Kraweljeh“. Michel hatte als Junge die Einquartierung napoleonischer Soldaten erlebt, und sich da einige Ausdrücke angeeignet, die er oft und gern gebrauchte. Kraweljeh sollte der französische Ausdruck für arbeiten heißen. Mach die Türe zu hieß bei ihm: „bärwelabort“. Michel, genannt Kraweljeh, erhielt sein Mittagessen von den Schafhaltern abwechselnd gebracht. Auch ich musste es ihm zuweilen auf die Weide bringen. Dabei vergaß ich nie, seinen großen schönen Hund mit Leckerbissen zu erfreuen. Gern hielt ich mich ein Weilchen bei dem Schäfer auf, und er erzählte mir dann von seinen haarsträubenden Erlebnissen, die er in der Fremde erlebt haben wollte. Dann durfte ich leichtes Kerlchen, zu seinem Vergnügen, mit wenig Erfolg auf seinem Hammel reiten. Ergötzlich war es, wenn ein Flug Stare angeschwirrt kam, sich auf dem Rücken der Tiere niederließ, und deren Fell nach Ungeziefer absuchte. Damals gab es noch viele natürliche Nisthöhlen für die schönen, gelehrigen Vögel. (Als gelehrig erwiesen sie sich, wenn sie in der traulichen Wohnstube im grünen Käfig, munter zwitschernd und schwätzend in ihrer drolligen Art den Raum belebten.)

Einen Kuh-, Schweine- und Gänsehirten gab es dazumal auch noch. Wenn der tiefe Ton des Kuhhirtenhorns und der helle des Schweinehirtenhörnchens ertönten, öffneten sich die Ställe, und auf der Dorfstrasse gab es ein munteres Gewimmel. Die Schweine quiekten, purzelten und rannten durcheinander, die Kühe machten ihre munteren Sprünge. Die Hirten mit Hund und Ringelstock, letzterer diente auch gelegentlich als Wurfgeschoss, sammelten ihre Herde und zogen auf die Weideplätze.

Der Nachtwächter hatte mit seinem langen Blechhorn die Nachtstunden abzublasen. Während er in der Wirtsstube, kraft seines Amtes, Feierabend gebot, kam es vor, dass ihm ein junger Bursche das am Hausgang stehende Horn verstopfte. Die Nachtwächter wurden überall gern geneckt, weil sie sich mit dem Feierabendgebot unbeliebt machten.

Der älteste Polizeidiener, dessen ich mich erinnere, war der „Eckeschneider“ Decher, der Vorgänger Schmehls. Er war ein gravitätischer Ausrufer, mit gewählter Sprache, wenigstens bemühte er sich hochdeutsch zu sprechen. Er trug eine Uniform mit blitzblanken Knöpfen und einen Säbel an der Seite. So stand er in selbstgefälliger Pose, stolz, besonders wenn Fremde zuhörten. Im Privatleben war er nichts weniger als ein Vorbild. Er traute seiner Frau Regine nicht, war eifersüchtig wie Othello, und prügelte sie, wenn sie nicht flüchten konnte bis sein Zorn verraucht war. Meist war er auch nicht ganz nüchtern. Als schon alter Mann verzog er nach Romrod wo er, immer noch eifersüchtig auf seine alte Regine, einen vermeintlichen Nebenbuhler mit der Schere tot stach. (Auch hier war, wie so oft, der Alkohol der große Verderber).

Eine sehr unbeliebte Angelegenheit war es für die Ortsbürger, wenn der Gemeindediener Schmehl ausschellte: „Dr’ Staierhäwer äs dou!“ Die Leute entrichteten ihre Steuern – wenn sie Geld hatten – beim Gemeinderechner Kasper, bei welchem zum Fälligkeitstermin der in Romrod ansässige Steuererheber erschien, um das Geld in Empfang zu nehmen.

Zur Zeit der Thurn- und Taxispost (Ein Herr v. Thurn- und Taxis, war der Begründer der ersten öffentlichen Postbeförderung in Deutschland.) hatte Liederbach schon eine Art Beförderungsstelle. Sie lag in den Händen des Postboten Decher in der Rabgasse, der auf seinen Dienstgängen mit einem derben Knotenstock ausgerüstet war. (Uniformen gab es damals noch nicht bei der Post.)

Hoher Besuch erschien in den 1860er Jahren regelmäßig im Dorf. Die hessischen Prinzen kamen mit ihren Jagdfreunden, um an den, alljährlich im Herbst veranstalteten Treibjagden teilzunehmen. Da kam für einige Tage reges Leben ins Dorf, und es gab, besonders für uns Kinder viel zu gucken. Standquartier war das Dippel’sche Gasthaus. Der alte Dippel war ein gemütlicher, freundlicher Wirt, unterstützt von seiner gewandten tüchtigen Hausfrau, genoss sein Haus einen guten Ruf.

Das Trinkwasser wurde an „Klee’s Born“ geschöpft, dieser war der eigentliche Dorfbrunnen, zu dem am Abend die Dorfbewohner pilgerten, mit dem Joch über der Schulter, an dem zwei Eimer hingen. Dies war für gewöhnlich kein unbeliebter Gang, denn am Brunnen hielt man gern ein Schwätzchen und alle Tagesneuigkeiten wurden hier ausgetauscht. Außer diesem gab es noch einige Laufbrunnen, von denen der Schönste „Decher’s Born“ in der Rabgasse war.

Die große Bleiche befand sich am Graben, ausgehend von den ungefassten Quellen im Bruch auf „Roth’s Lappen“ (Wiesen). Den ganzen Sommer über war sie belegt mit den unendlich langen Stücken Hausmacherleinwand die bei Sonnenschein eifrig begossen wurden. Abends, beim Aufnehmen, machten wir Kinder uns zuweilen den Spaß, uns in die langen, weißen Leinenstücke einwickeln zu lassen, um als lebendige Leinwandsteige herum zuspringen. (1 Steige = 20 Ellen.)

Äußerlich hat das Bauernhaus, bis auf wenige Änderungen, bis in die heutige Zeit, sein Gesicht noch erhalten, wie es vor 100 und mehr Jahren auch schon war. Aber schauen wir hinein, so besteht ein großer Unterschied. Wenn ich heute die gepflegte Küche eines guten Bauernhauses betrete, denke ich daran, was ich bis in die 1870er Jahre hinein, erlebte. Da wurde am offenen Herdfeuer auf dem Dreifuss gekocht. Ein Blasebalg musste helfen, wenn das Feuer nicht in Zug kommen wollte. Der Rauch zog zwar, je nach Wetterlage durch den großen Rauchfang zum Schornstein hinaus. Die Küche blieb aber doch immer rauchig. Davon zeugten die geröteten Augen und das Hüsteln meiner Gote, welcher die Hauptarbeit in der Küche oblag. Gern leistete ich ihr als kleiner Junge Gesellschaft, und es war manchmal gar lustig in der alten Küche. So manches fröhliche Liedchen, aber auch mancher schöne Choral ist mir noch in Erinnerung, die wir zusammen sangen, während ihre Hände fleißig sich regten. Wenn die Gote Pfannkuchen buck, war das Zusehen besonders interessant. Mit einem Schwung der Pfanne flog der Kuchen hoch, und fiel mit der anderen Seite wieder in die „Pann“. Mitunter nahm sie dazu Leinöl, welches damals auch als heilsames Hausmittel vielfach benutzt wurde. Die Got war eine zarte, leider über ihre Kraft mit Arbeit belastete, vorbildliche Bäuerin. Sie starb, als sie noch nicht 60 Jahre alt war. Für mich war dies der erste große Schmerz, der in mein kindlich unbekümmertes und heiteres Leben eingriff und ist mir darum auch bis ins hohe Alter bewusst, als ein tief in die Kindesseele eingreifendes Ereignis. Ging die liebe Got einmal in die Stadt, nach Alsfeld, ohne mich mitzunehmen, und ich fing: „Gote, bringt Dir mir auch was mit? „sagte sie scherzhaft, „ja, ein gebackenes Autchen und ein goldenes Nautchen“. Durfte ich einmal mitgehen, so gab es in der Metzgerei Braten oder Würstchen zu essen und für den Heimweg noch eine Tüte Zuckersteine (Zockerstee!).

Doch sehen wir uns weiter im Bauernhaus um. Die Küche lag eingebettet zwischen anderen Räumen des unteren Stockwerks, am „Ehrn“, der Haustür gegenüber. Die Heizung des großen Kachelofens in der Wohnstube, die mittels großer Holzscheite erfolgte, wurde von der Küche aus vorgenommen und war eine praktische Einrichtung. Auf der Heizung unter dem Rauchfang, zwischen Küche und Wohnstube, war ein großer Wasserbehälter eingebaut, die Blase genannt, als Warmwasserspeicher. Oben im Rauchfang hing im Winter die Schlachternte im Rauch. Ein Gestänge über dem Ofen diente zum Trocknen der Handkäse, In der Wohnstube hatte die Truhe, Lade genannt, ihren ordentlichen Platz. Sie war, mit selbstgesponnenem Leinen gefüllt, der Stolz der Hausfrau. Hier stand auch der massive, mächtige Schrank, solide Schreinerarbeit, oft sogar ein echtes Meisterstück. Leider findet man solche gediegenen Möbel heutzutage verstaubt und verachtet beim Gerumpel stehen, und die Stuben sind ausstaffiert mit, oft recht geschmacklosen Fabrikmöbeln. Ein schwerer aus Eichenholz gefertigter Tisch, und die lange breite Ofenbank mit eingebauten Schränkchen, vervollständigen die Einrichtung. Eine oder zwei Stuben im Untergeschoss waren den Alten vorbehalten, die ja immer noch mit der jüngeren Generation im Hause wohnten, und mithalfen bei der Arbeit. Im Oberstock befanden sich Schlaf- und Vorratsräume und die sogenannte „Öwerstub“, ein schön ausgestatteter Raum in dem ab und zu Gäste beherbergt wurden. Als Beleuchtung trat an Stelle des Öllämpchens, in den 1860er Jahren, das aus Amerika eingeführte Petroleum, „Stinkfett“ genannt. Den Docht musste die Hausfrau aus Altleinen selbst schaben. Das gab ein Lichtchen von Erbsengröße, denn wenn man den Docht länger herauszog, russte und stank das Flämmchen. Darum herum sasen an Winterabenden die Frauen mit spinnen und stricken beschäftigt. Die Männer fertigten einen Vorrat an Strohseilen für die Ernte, oder flochten Körbe aus Weiden. Auch das Weben war ihre Arbeit, den langen Winter über.

Da fast alles, was der Mensch an Kleidung benötigte im eigenen Hauswesen hergestellt wurde, musste für Flachs und Wolle gesorgt werden. Der Flachsanbau, ein uralter Zweig der Landwirtschaft, und die langwierige und zeitraubende Verarbeitung des Flachses, war vor 100 Jahren noch so wichtig, wie die Gewinnung des täglichen Brotes. Im Frühling boten die blühenden Flachsfelder ein liebliches Bild, und ganz besonders schön war das Farbenspiel, wenn blühender Raps daneben stand, und diese himmelblau und gelb wogenden Blütenmassen vom Winde gewiegt wurden.

Wie schön war ein sonniger Sonntagmorgen, als der Kirchgang noch unbedingt zum Sonntag gehörte, da jung und alt, in feierlich gemessenem Gang durch die blühende Sommerwelt schritt, dem nahen Kirchlein Oberrod zu, um dort dem Herrn ihr Dankopfer, ihren Bitt- und Lobgesang zu bringen.

Wenn vom Flachs gesprochen wird, darf auch die Wolle nicht vergessen werden. Die Schafschur wurde im Juni vorgenommen. Vorher gab es eine große Wäsche der Tiere im Teich, damit das Vlies möglichst sauber wurde. Die Vorbereitung zum spinnen der Wolle, war das Kämmen. Dies besorgte der Kämmler, ein Mann aus dem Dorf, der einige Tage mit seiner Kämmelbank (eine Art eiserner Rechen) in’s Haus kam. Nach dem Spinnen von Flachs und Wolle, wurde mit dem Weben begonnen. Leinen und Wollfaden zusammen, waren das Material, aus welchem der haltbare Stoff gewebt wurde zur Werktagskleidung für Mann, Frau und Kind. Es war die schöne Beiderwand, meist dunkelblau gefärbt mittels Indigo.

Wer in der Jugend erlebt hat, wie Saat und Ernte noch mit den alten Geräten sich abwickelte, und den Arbeitsbetrieb mit den neuzeitlichen Maschinen heute betrachtet, möchte sich das Rätsel vorlegen, wie konnte früher der Bauer mit der unendlichen Kleinarbeit fertig werden? Während der Heuernte waren in der Kilian’schen Schmiede nicht Hände genug um all die Sensen zu dengeln. Bis in die späte Nacht hinein klang das Hämmern durch’s Dorf. Ein melodischer Klang, so scheint es mir, verglichen mit dem Motorenlärm von heute. Eine Freude für uns Kinder war das Heimfahren auf den hochbeladenen Heuwagen, und später beim Abladen in’s Kohr, das „Dämmeln“ (festtreten des Heu’s auf dem Heuboden). Fast den ganzen Winter hindurch, erschallte, viele Stunden vor Tagesanbruch beginnend, das rythmische „klipp-klapp“ der Dreschflegel. Die gesamte Körnerernte wurde auf diese Weise gewonnen. Auf das Dreschen folgte das Reinigen der Körner durch Worfeln mit der Schaufel.

Das Leben auf dem Dorf verlief im Gleichklang der arbeitsreichen Tage, wie die Jahreszeit sie brachte, unterbrochen von den, schon wochenlang im Voraus freudig erwarteten Festen. Wenn die Arbeit auf dem Felde getan, das Zwetschenmus in großen irdenen Töpfen braun und glänzend bereit stand um das Vesperbrot das ganze Jahr über zu versüßen; wenn das fette Schwein geschlachtet, Vorratskammern und Keller gefüllt waren, so kam, um Martini herum die Kirchweih, Kirmes genannt. Sie hat heute nicht mehr die Bedeutung, die sie früher hatte. Das war ein richtiges Volksfest. Arm und reich, jung und alt, beteiligten sich daran. Auswärtige Verwandte wurden eingeladen und gut bewirtet. Die Jugend aus den Nachbarorten kam zum Tanz. An diesen Tagen durfte das Geld einmal locker sitzen, und es wurde nicht geknausert. Die jungen Burschen hatten für die Kirmes gespart und konnten wohlgefällig auf die schönen Gulden und Halbguldenstücke, die Sechser, Groschen und Kreuzer in der Hosentasche klopfen: „Mr how’s mr kon’s“. Die Kirmes brachte das einzige große Tanzvergnügen des Jahres im Dorf, sie war ein schöner, willkommener Abschluss der arbeitsreichen Sommer- und Herbstzeit und dauerte drei Tage. Kleinere Tänzereien gab es gelegentlich in den Spinnstuben. Während des Winters kamen die Mädchen mit ihren Spinnrädern abwechselnd in den Bauernhäusern zusammen. Dabei sorgten die jungen Burschen für Unterhaltung und unter Gesang und lustigen Spielen ging die Arbeit leicht vonstatten.

Die Weihnachtszeit war eine Zeit der Stille und des Ausruhens. Nur den Kindern wurde am Heiligen Abend etwas beschert, und daran hatten die Alten mit ihre Freude. Einen solchen, das Kinderherz beglückenden Christabend, will ich versuchen aus der Erinnerung zu schildern:

Wie lang erschien uns der Nachmittag, an dem die Erwachsenen noch so geschäftig sich tummelten. Von den Ställen angefangen, bis in alle Winkel des Hauses hinein, sollte es sauber und festlich aussehen. Endlich begann es zu dunkeln, und der sehnlich erwartete Bescherabend war angebrochen. Heftige Winde fauchten um das Haus, und der Schnee klatschte an die Fensterscheiben. Wenn man hinaussah, gewahrte man nur dichte Wirbel von Schneeflocken. Es war das berüchtigte Vogelsberger Wusterwetter. Um so behaglicher war es in der warmen Stube. Ein gesuchter Platz war die lange, breite Ofenbank. An der Stubendecke prangte eine Neuheit, eine Hängelampe, gespeist mit dem neumodischen, amerikanischen Petroleum, die ein mildes Licht ausstrahlte. Es erschien uns als eine ganz wunderbare Beleuchtung. Als die Abendmahlzeit beendet war, saß man hier in gespannter Erwartung zusammen, denn das Christkindchen wurde persönlich erwartet. Meine gute Gote war die einzige von der Familie, die noch nicht dabei war, sie holte, wie gesagt wurde noch Kuchen aus dem Backhaus. Meine Mutter war zusammen mit der Base beschäftigt, das Christbäumchen zu schmücken, mit selbstgebackenen Kringeln, kleinen roten Äpfelchen und mit Nüssen. Als Lichtchen dienten, an dünnem Draht aufgehängte, halbe Nussschalen, mit Öl gefüllt, und kleinem Docht darin. Wir Kinder rieten: kommt es – kommt es nicht! ? das Christkind. Unterdessen erzählte die Mutter die Weihnachtsgeschichte vom Jesuskind, das auf Stroh in einer Krippe lag, und wir lauschten voller Staunen der wundersamen Mär. „Ihr Kinderlein kommet“ und „Lobt Gott ihr Christen“ wurde immer wieder geübt, dass wir’s dem Christkind vorsingen könnten. Da – ein Klopfen an der Haustür, und kurz darauf kam das mit Schneeflocken übersäte Christkindchen mit einem Säckchen in der Hand, in die Stube, von den Erwachsenen umständlich und ehrerbietig begrüßt. Wir Kinder waren ängstlich geworden, aber nach einer freundlichen Ansprache hatte sich auch das weinende Lisbethchen beruhigt. Nach einem kurzen Examen, das natürlich gut ausfiel, und nachdem jedes sein Gebetchen gesprochen, und wir zusammen das Weihnachtslied gesungen hatten, wurde das Säckchen geöffnet, und freudestrahlend wurden die Geschenke in Empfang genommen. Nach einer Ermahnung immer hübsch brav zu sein, nahm das freundliche Christkind wieder Abschied. Und nun brannte auf dem Kastentisch (der Truhe) das Lichterbäumchen, und darunter lagen die bescheidenen Geschenke. Da gab es einen aus Schafwolle gestrickten Palentin (Schal), Fausthandschuhe, bunt geringelte Strümpfe, auch ein kleines Spielzeug. Das Lisbethchen jauchzte über das Püppchen, klein Heinjörg zog das Pferdchen in der Stube herum, Vetterchen Heinrich aber platzte mit einer Wahrnehmung heraus, die er nicht für sich behalten konnte: „Hott’r’sch geseh! hott’r’sch geseh, es Chrestkinnche hatt grod so rot Hoor wie mei Gote!“ Bald darauf trat die Gote, das beschneite Kopftuch über dem roten Haar, in die Stube, und meinte so ganz wehleidig, bei dem schlechten Wetter werde das Christkind wohl nicht kommen. Aber da gab es ein Hallo bei den Kindern, sie belehrten die Großmutter – Gote eines anderen und konnten sich nicht genug tun mit Erzählen und Vorzeigen der Geschenke, die sie erhalten hatten.

In der Neujahrsnacht spielten allerlei Orakel eine Rolle, denn man war ein bisschen abergläubig. Bleigießen, ein Befragen der Erbbibel mit dem Erbschlüssel, u.a.m. Die Frauen legten sich in der Neujahrsnacht ihr Gesangbuch unter das Kopfkissen, wenn sie erwachten, schlugen sie es gleich auf, und das aufgeschlagene Lied war so eine Art Losung für das neue Jahr. Ich beeilte mich am frühen morgen das Neujahr abzugewinnen, das heißt, als Erster mit dem Segenswunsch und dem aufgesagten Lied „Des neuen Jahres erster Morgen“, die Angehörigen zu begrüßen. Dann erhielt ich mein Neujährchen in Gestalt eines kleinen blanken Geldstücks für die Sparbüchse. Ein so genanntes Neujährchen erhielt auch der Lehrer, dem ich es, nach altem Brauch am ersten Schultag auf den Katheder legte. Auch zu Martini und Ostern erhielt der Lehrer ein Geschenk, aber diese in Form von Lebensmitteln, etwa einer Wurst, Eiern, Butter oder gar ein lebendes Stück Geflügel. Es kam vor, dass am Martinstag ein Kind mit einer schnatternden Gans unterm Arm ankam.

Ostern, Frühlingserwachen, brachte den ersten Eiersegen in’s Haus, und wir Kinder freuten uns aufs Eierwerfen auf der mit frischem Grün geschmückten Bruchwiese. Jedenfalls ein uralter Brauch. Vielleicht bedeutete es früher, in vorchristlicher Zeit, ein Opfer für Ostara, die Frühlingsgöttin. Wir machten uns auch ein Hasengärtchen im Freien, in welches der Osterhase seine bunten Eier legte. Frühmorgens rief die Mutter: „Eil dich, alleweil is de Has fortgesprunge“. Als kleines Kind, auf der Mutter Arm, zeigte sie mir am östlichen Himmel, am Fenster der Oberstube, das vor Freude hüpfende Osterlämmchen. Es war die aufgehende Sonne, die zu flackern schien, also wirklich hüpfte, aus Freude über den vom Tode auferstandenen Heiland. Vor Sonnenaufgang schöpften sich die Frauen das heilsame Osterwasser aus der klaren Quelle bei Oberrod. Es wurde unter lautlosem Gebet, einem Segensspruch, geschöpft. Die Konfirmanden brachten zu Ostern ihrem Pfarrer, zum Zeichen des Dankes, eine Anzahl Eier und ein selbst gepflücktes Veilchensträußchen. Auch dies war ein alter, gut gemeinter Brauch.

Die Konfirmation fand zu meiner Zeit an Pfingsten statt, in der Romröder Kirche. Einen schöneren Kirchgangsweg lässt sich nicht denken, als der unsrige, frühmorgens durch den frischgrünen Wald, nach dem nahe gelegenen Dorf Romrod. Noch ganz lebhaft ist mir der Pfingstmorgen des Jahres 1873 im Gedächtnis. Das Romröder Pfarrhaus empfing uns im festlichen Schmuck. Von dort zogen wir, in Reihen geordnet und vom Pfarrer geführt, in die Kirche, die einem blumigen Birkenhain glich, in ihrem reichen Frühlingsschmuck.

Die feierlich Handlung, das heilige Gelübde und das Abendmahl des Herrn, das war der erste Markstein auf dem langen Lebensweg und die geistliche Zehrung für den Christen.