Spaziergänge eines Naturfreundes
aus alter Zeit von Heinrich Dahmer
geboren in Liederbach den 14. Nov. 1859
gestorben in Darmstadt den 20. Mai 1953
In früheren Jahren, wenn ich es irgend einrichten konnte, so sagte ich der staubigen Residenz, in die ich verschlagen war, Valet, und nistete mich für einpaar Tage im alt heimischen Nest ein, das ich von Alsfeld aus – per pedes – in Kurze erreichte. Noch einmal, im hohen Alter, in den Jahren 1945 -1950, als die Kriegsfurie unser Vaterland zerschlagen hatte, wurde das Dorf mir Heimat. Wohlbekannte Pfade der Umgebung wurden erwandert so weit die alten Beine mich trugen, und die Schönheit und Lieblichkeit der Landschaft erschaut soweit die alten Augen es zuließen.
Wie vor fast 80 Jahren, fand ich auf den Wiesen am oberen Krebsbach, die schöne gelbe Trollblume, ein Fremdling und eine Seltenheit in unserem Hessenland. Sie kommt hauptsächlich auf Alpenwiesen vor. Als Kinder nannten wir sie „doppelte Schmergeln“. Eine Pflanze von dort habe ich in den Garten des Liederbacher Forsthauses verpflanzt, wo sie uns mit reichem Blühen erfreute. Die wilde Akelei, mit der großen blauen Blüte – die schon der große Maler A. Dürer einst gemalt hat – fand sich am Poppenberg und Gänsberg. Auf den feuchten Wiesen konnten wir uns im Frühjahr, in den mageren Hungerjahren manche Mahlzeit an Wildgemüsen und Salat holen. In der, durch das Tal sich schlängelnden Liederbach hatte die heilsame Brunnenkresse sich in Massen angesiedelt Beim Bergteich und der „runden Wiese“ fand sich, zu meiner Überraschung die Pechnelke, die kleine Stendelwurz und an trockenen Stellen, besonders reichlich am „Kährnest“, das offizielle Tausendguldenkraut.
Ein Idyll war der, zu Großvaters Zeit der Bewässerung dienende, mit hohen Erlen umstandene Teich im Bachlauf, in dem mein Großvater noch Karpfen zog. Er ist verschwunden, ebenso wie das in Stein gefasste uralte Brünnchen am oberen rechten Bachufer, an dem ich als Junge gern lagerte. Stundenlang konnte ich da das Treiben der Wassertierchen beobachten und nebenbei im klaren Wasser das eigene Konterfei betrachten. Auch liess ich am steinigen Bach, Aalbrut, dünn wie Bindfaden ca. 20 cm lang, sich schlängelnd, spielerisch durch die Hände gleiten. In der Liederbach wurden mitunter recht ansehnliche Aale gefangen.
Dass Oberrod mit dem Liederbachtälchen in meinen Jugenderinnerungen mit den ersten Platz einnimmt, rührt daher, dass fast der ganze Grundbesitz meiner Ahnen dort lag, und sozusagen eine eigene Welt für den Jungen bildete. Für den Naturfreund Merschrodbietet die Heidekammer lohnende Ziele. z.B. der Merschröderteich, oder im Wald das Wildfrauhaus, eine Felsgruppe. Das landschaftliche Gesicht des ausgedehnten Krebsbach – Humbachtales, in Verbindung mit den Gewannen des gleichen Namens, legt die Vermutung nahe, es habe sich hier in alter Zeit eine Siedlung befunden, Merschrod. Die Stelle wo der Krebsbach frei und breit über die Strasse floss, hieß die „Hum – Petsch“. Ein paar in’s Wasser gelegte Steine, mussten die Brücke ersetzen. Darin gab es früher viele Blutegel, die sich zur Belustigung der Buben an den Füssen festsaugten. Ein reicher aber ungenutzter Krebsbestand war in diesem Wässerchen vorhanden. in der HeidekammerAm Unterlauf hatte der Alsfelder Gänsehirt seine Weideplätze. Mit Schlangen machte ich auf einsamen Spaziergängen des öfteren Bekanntschaft. Wenig angenehm war es, einer Kreuzotter zu begegnen, sie ist selten anzutreffen. Jedoch traf ich häufig im Hainberg und bei Oberrod die Äskulappnatter.
In Feld und Wald hatten sich noch uralte, bemooste Baumgreise erhalten. Außer einigen Rieseneichbäumen, die versteckt im Wald noch zu finden waren, gab es einen Bestand an Wildäpfeln, Wildbirnen und Wildkirschen. Letztere am Hutrain stark vertreten. Nur noch ganz wenigen gönnt man heute ein Plätzchen. Solche Naturdenkmale sollten Ehrfurcht vor der Schöpfung erwecken. Sie übertreffen alle kultivierten Obstbäume an Lebenskraft. Den Haselstrauch glaubt man überall, wo er versucht Gebüsche zu bilden, ausrotten zu müssen. Früher gab es reichliche Ernten in den Hecken, sodass es üblich war, dieselben als Wintervorrat zu sammeln. Zum Vergnügen gingen Sonntags die Mädchen „in die Nüsse“ – und sie blieben dabei nicht allein, die jungen Burschen beteiligten sich dabei und halfen die Säckchen füllen. Der Holunderbaum wurde früher sehr geschätzt, ja den Alten galt er noch als heilig. Er fehlte wohl bei keinem Bauernhaus. Heilsam und nützlich sind Blüten und Beeren. Wir Buben schnitzten uns Pfeifchen aus seinem Holz. Einen Schläfer unter dem blühenden Holunder umgaukelten goldene Träume. Probiert’s!
Schutzhütte im Merschroder Wald. Es ist bekannt, dass die Vogelwelt in unserer Heimat einst um viele Arten reicher war als heute. Durch Geradelegung der gewundenen Bachläufe, Rodung von Gebüsch und Hecken, den Nistplätzen vieler Vogelarten, ist auch zugleich manch‘ schönes Landschaftsbild verschwunden und hat praktischen Erfordernissen der Neuzeit weichen müssen.