eines 90. jährigen aus alter Zeit

aus alter Zeit von Heinrich Dahmer

geboren in Liederbach den 14. Nov. 1859 
gestorben in Darmstadt den 20. Mai 1953

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Wenn ich nach sieben Jahrzehnten, durch Gottes freundliche Fügung, aber in äußerlich schwerster, traurigster Zeit noch einmal in die Heimat zurückkehren durfte, so lebt in mir die Vergangenheit, die Erinnerung an die Jugendzeit, deutlich wieder auf, und es drängt mich, die Bilder aus alter Zeit Gestalt werden zulassen.

Was der Knabe einst aus Erzählungen der Alten, durch wissbegieriges Fragen und Nachforschen, oder durch eigenes Erleben, erfuhr, hat der Greis im Gedächtnis bewahrt. Und je mehr alles äußere Erleben zurücktritt, desto stärker lebt die Vergangenheit wider auf. Es liegt dem bäuerlichen Menschen ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit seiner Heimatscholle im Blut. Er löst sich nur schwer, und wenn er gezwungen ist; sein Leben außerhalb dieses angestammten Lebenskreises zu verbringen, so bleibt doch ein, wenn auch unbewusstes Zurückverlangen im Innersten bestehen.

Ehe ich von dem Liederbach des 19. Jahrhunderts erzähle, in dem mein eigenes Leben, wenigstens der reichste Teil desselben, sich abspielte, will ich berichten, was ich von der allerfrühsten Vergangenheit erfahren konnte.

Unser Dorf hat sich, gleich anderen Bauerndörfern aus einer Siedlung unbekannten Alters, zu einer Ortschaft ausgewachsen. Über den Verlauf seiner Entwicklung liegen urkundlich oder mündlich kaum Nachrichten vor. Es war zweifellos ein Weg voller Mühen und Drangsale. Die Geschichte berichtet später im Allgemeinen über die mittelalterliche, traurige Lage des geknechteten Bauernstandes und seiner Existenzkämpfe. Liederbach hat keine Ausnahme gemacht. Das Wenige, das man über seine Vergangenheit weiß, ist die, der Alsfelder Chronik entnommene Tatsache, dass vor Zeiten das Gebiet unter der Herrschaft der Herrn von Liederbach stand, die hier ihren Adelssitz hatten. Vermutlich erst nach Jahrhunderten der Urbarmachung des ihnen vom Beherrscher des Landes überlassenen Nährbodens, wurden die Bauern, durch den wohl schwersten Eingriff in ihre Existenz, an ihre Unfreiheit und Ohnmacht erinnert, gegenüber der Herrschergewalt, der sie sozusagen enteignete, indem er das ihnen anvertraute Gebiet einem neuen Herrn als Lehen übergab, und sie damit zu dessen leibeigenen Untertanen machte.

Der neue Herr Hess ließ sich auf der wohl schönsten Siedlung am Bach, am quellenreichen Tälchen, an der südlichen Verkehrszugangsstrasse nieder, und schuf sich hier seinen Adelssitz. Es soll eine Wasserburg gewesen sein, an der Stelle des jetzigen Engelhardschen Hofes. Der Teich ist wohl noch ein Überbleibsel aus alter Zeit.

Der Ritter brachte Gefolgsleute mit, die den Besitz der Bauern noch mehr schmälerten, und sich nach eigenen Sitten und Gewohnheiten einrichteten. So sasen nun die hörigen Bauern auf dem ihnen vom Herrn überlassenen Grund und Boden in Erbleihe belastet mit Abgaben und Dienstbarkeiten für diesen. Durch den Übergang der Herrschaft auf den Lehensträger, der sich nun Herr von Liederbach nannte, und mehr noch durch die Wahl des Ortes als Residenz trat dieser aus dem Dunkel an die Öffentlichkeit. Als Mittelpunkt des Lehensgebietes und seiner Verwaltung, rückt es in das Blickfeld weiter Kreise. Man wird deshalb die Sesshaftmachung der Herrn von Liederbach als Gründung des Dorfes bezeichnen dürfen. Kriegs- und Pestzeiten, besonders im 30. jährigen Krieg, haben Liederbach schwer betroffen. Der „Siechgarten“ erinnert noch an Zeiten großer Epidemien, wie sie im ganzen Lande auftraten, und in deren Verlauf ganze Dörfer ausstarben.

Die Zeit des Aussterbens der Ritter von Liederbach und Heimfall des Lehens, ist, ebenso wie der Herrschaftsantritt, mir zwar unbekannt, aber feststellbar. Es genügt uns, dass das Lehensrecht mit der Feudalzeit längst untergegangen ist, und die Hof- und Erbleihegüter der Bauern auch schon längst in das freie Eigentum der Besitzer übergegangen sind.

Die Güter waren Familienbesitz, für neue Bauernstellen kaum Platz, und so blieb Liederbach bei Abwanderung des überschüssigen Nachwuchses klein. Es wurde auch erst im Jahre 1821 selbständige Gemeinde mit dem ersten Bürgermeister Kalbfleisch.

Man wird annehmen dürfen, dass die Siedlung, ebenso wie das noch ältere Alsfeld, schon bestand, als sich Mönche in Oberrod niederließen, um den Bewohnern des Umkreises Christentum und Kultur zu bringen.

Bemerkenswert ist, dass die Kirche in dem nahen Dorf Zell urkundlich bereits im Jahre 825 unter Ludwig dem Frommen geweiht wurde.Bemerkenswert ist, dass die Kirche in dem nahen Dorf Zell urkundlich bereits im Jahre 825 unter Ludwig dem Frommen geweiht wurde.

Die zweifellos sehr alte Kultstätte Oberrod, freundlich umkränzt von bewaldeten Höhen, ist ein Kleinod eigener Art. Hier liegt Kirchlein und Friedhof Liederbachs, eine kleine Wegstrecke entfernt vom Dorf. Bonifatius, der Apostel der Deutschen hat hier einst gepredigt und getauft, wie die Überlieferung berichtet. Darüber sind nun fast 1200 Jahre vergangen. Der älteste Zeuge für Oberrods hohes Alter, ist das steinerne Taufbecken. Es steht unter der alten, mächtigen Linde, welche der Sage nach, von Bonifatius gepflanzt wurde. Heute noch dient das umgestülpte Taufbecken als Altar beim Pfingstgottesdienst, der jährlich im Freien stattfindet, und zu welchem aus den umliegenden Ortschaften die Gläubigen herbei kommen. Auf Oberrod soll ein Nonnenkloster gestanden haben, und die Stätte bis zur Reformationszeit ein Wallfahrtsort gewesen sein. Die jetzige, leider recht schmucklose Kirche ist aus den Steinen des alten Gebäudes aufgebaut, das im 30 jährigen Krieg zerstört wurde. Eine Glocke aus dem 13. Jahrhundert ist noch erhalten. Die Alten des Dorfes erzählten noch von den Gräueltaten schwedischer Soldaten Gustav-Adolfs im 30. jährigen Krieg. Der Landgraf Ludwig der V. von Hessen, hatte sich den Katholischen angeschlossen, worunter das Volk schwer zu leiden hatte. Ein wechselvolles Schicksal schritt über Oberrod dahin, doch ist und wird es bleiben, die ehrwürdige Stätte, die es seit  Menschengedenken war,  da  der  Mensch  einen  Hauch  verspürt  vom Unendlichen, Ewigen.

Von einem munteren Bach, der von Oberrods quellenreichen Wiesengründen“ herkommt, hat Liederbach seinen Namen. Der Liederbach war jahrhunderte lang der Wohltäter Alsfelds, der nahen Kreisstadt. Sein klares Wasser war durch alle Strassen und Gässchen der Stadt geleitet, und floss, fröhlich plätschernd neben dem Fußgänger dahin. Der Liederteich, vor den Toren Alsfelds, war Wasserspeicher für Brandfalle. Auch jetzt noch, in der Neuzeit, ist Alsfeld Nutznießer des reichen Liederbacher Quellgebiets.